Bei „Selbstdiziplin“ denken viele erst mal daran den inneren Schweinehund niederringen oder sich zu etwas zwingen zu müssen. Also irgendwie mit der Peitsche hinter sich zu stehen und sich anzutreiben. Die alten Römer nannten das disciplina und meinten damit schulische und militärische Erziehung, sowie „Zucht und Ordnung“ bis hin zur „Züchtigung“. Aber sie bezeichneten damit aber eben auch Dinge wie Wissenschaft, Schulung und Unterricht. Wie klängen also z.B. „Selbstschulung“ statt „Selbstbeherrschung“ und „Selbstkontrolle“?
Wie ich in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 7.1.2020 in einem Interview mit der Psychologin Wendy Wood lesen konnte gilt die Vorstellung, die wir von Selbstkontrolle haben, in der Forschung mittlerweile als überholt. „Die meisten glauben, erfolgreiche Unternehmer, Sportler oder Schriftsteller wären auch überdurchschnittlich selbstkontrolliert. Dabei nutzen Menschen, die bei Selbstkontrolle-Tests gut abschneiden, in der Regel gar keine Selbstkontrolle im Sinne von Selbstdisziplin. Sie sind lediglich gut darin, gewünschte Handlungen in Gewohnheit (Blog Nr. 5) zu verwandeln.“
Der Marshmallow-Test
Aber da war doch die Geschichte mit dem Marshmallow-Test: 1968, beobachteten Wissenschaftler um den Psychologen Walter Mischel Kinder, die in einem Raum mit einem Marshmallow allein gelassen wurden. Sie dürften das Marshmallow zwar gleich essen, aber wenn sie warten könnten, bis der Versuchsleiter zurückkommt, dann würden sie noch ein zweites dazu bekommen. Als 14 Jahre später die gleichen nunmehr Jugendlichen untersucht wurden, stellte sich heraus, dass diejenigen, die schon damals die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung aufbrachten, besser mit dem Leben zu recht kamen.
Ist also die Fähigkeit zum sogenannten Belohnungsaufschub etwas, das man schon in die Wiege gelegt bekommen hat? Nicht wirklich, denn eine spätere Studie fand heraus, dass die Fähigkeit zum Gratifikationsverzicht stark von der (sozialen) Umwelt und deren Verlässlichkeit beeinflusst wird. Wenn diese Fähigkeit also erlernt wurde, dann gibt es doch noch Hoffnung für die Selbstdisziplin.
Extrinsische und Intrinsische Motivation
Selbstdisziplin, also an einer Sache dranbleiben, fällt dann nicht besonders schwer, wenn wir intrinsisch motiviert sind, also wenn unsere Motivation aus unserem Tun selbst entspringt, z.B. weil wir dieses für sinnvoll halten oder einfach weil es uns Freude macht. Das hilft uns auch damit verbundene Ziele nachhaltiger und hartnäckiger zu verfolgen.
Extrinsisch motiviert sind wir, wenn unser Tun und Verhalten im außen so wahrgenommen wird, dass wir dafür von anderen Lob, Anerkennung, Geld oder sonstige Anreize erhalten bzw. erhalten wollen. Da muss das „Schmerzensgeld“ für einen ungeliebten Job eben hoch genug sein, damit ich den goldenen Käfig trotz aller Unbill nicht verlassen will. Und da könnte Selbstdisziplin mit zusammengebissenen Zähnen auf Dauer eher schädlich für uns und unser Umfeld sein.
Typ und/oder erlerntes Verhalten?
Und wieder komme ich als LINC Personality Profiler Coach ich auf die Big Five zu sprechen. Warum das auch in diesem Zusammenhang interessiert? Weil einer der Big Five die bekannte Polarität zwischen Gewissenhaftigkeit und Flexibilität abbildet: vor allem die Facette: Disziplinorientierung versus Entspanntheit. Gut und schön hier die eigene Position zwischen den Polen verorten zu können. Dieser Blick auf eine relativ stabile Charaktereigenschaft sagt aber noch nichts darüber aus, wie sich jemand dann konkret verhält. Ob die Disziplinorientierung eher verkrampft oder eher freudig gelebt wird. Ob die Entspanntheit zu letztendlich, stressender Aufschieberitis führt oder nur dazu an mehreren Aufgaben gleichzeitig arbeiten zu können und dennoch die deadlines nicht aus dem Auge zu verlieren. Womit ich wieder zu einem Lieblingsthema komme:
Bewusste Entscheidungen treffen
Für jede nachhaltige Veränderung und somit auch für die Art und Weise, wie ich in bestimmten Themen in Zukunft mit mir selbst umgehen will, braucht es bewusste Entscheidungen.
Neige ich eher zu Selbstdisziplin mit der sprichwörtlichen Peitsche, braucht es die Entscheidung hier liebevoller mit mir selbst umzugehen. Hier hilft es sich mit dem Konzept des Selbstmitgefühls auseinander zu setzen. Lasse ich zu viel schleifen, macht es Sinn sich zu fragen, was mir wirklich wichtig ist.
Self Compassion
Die Amerikanerin Kristin Neff ist durch ihren TED Talk, Film- und Buchveröffentlichungen zur Leitfigur zum Thema Selbstmitgefühl geworden. Im Buch Selbstmitgefühl Schritt für Schritt“ definiert sie auf Seite 13 Selfcompassion folgendermaßen:
- Freundlichkeit als emotionale Antwort auf unser Leiden
In einer Haltung der Selbstfreundlichkeit behandeln wir uns selbst aktiv mit Güte und Verständnis. - Das Gefühl unserer gemeinsamen Menschlichkeit
Wir alle teilen diese Grundwirklichkeit des Lebens - Achtsamkeit
Achtsamkeit bedeutet, dass wir uns schmerzvollen Emotionen zuwenden und bereit sind, mit diesen Emotionen zu verweilen, mit ihnen zu sein.
Um zu erfahren, wie sich Selbstmitgefühl anfühlt, habe ich gerne folgende kleine Übung übernommen, die bereits viele meiner Klient:innen als wohltuend erfahren haben und nutzen:
Erst die Fäuste ballen und/oder die Zähne aufeinanderbeißen, um den einen Pol zu erspüren. Und danach beide Handflächen nach oben, eine Hand auf die andere und dann aufs Herz legen, um die Wärme und Geborgenheit dieser Selbstberührung zu empfinden. Gerade in Corona-Zeiten, in denen die Berührung durch andere oft ausfallen muss, noch wichtiger.
Das Fazit
Damit das mit der Selbstdisziplin funktioniert brauche ich also
- Eine bewusste Entscheidung, welche neue Gewohnheit in meinem Leben in Zukunft einen Platz haben soll.
- Eine Motivation, die aus meinem Inneren kommt und nicht eine von außen getriggerte, weil
- (Vor-)Freude auf bzw. über das Gefühl der Selbstwirksamkeit und die neue Farbe/Komponente in meinem Leben die Chance zur Umsetzung erhöht.
- Das Durchhaltevermögen in den ersten Wochen bis diese Gewohnheit aus meinem Alltag nicht mehr wegzudenken ist.
Wann fangen Sie damit an, wenn nicht gleich heute, Selbstdisziplin ganz neu kennenzulernen?
Und vergessen Sie dabei nicht wohlwollend mit sich umzugehen.
Ihre Harriet Kretschmar